Die Behinderung von Rettungsschiffen führt zu Hunderten von Todesfällen auf See

32 Organisationen fordern die sofortige Beendigung der systematischen Behinderung ziviler Seenotrettung durch die italienische Regierung. Allein im letzten Monat wurden nichtstaatliche Schiffe auf Basis des „Piantedosi-Dekrets“ dreimal festgesetzt – das von RESQSHIP betriebene Segelschiff Nadir zweimal hintereinander. Das bewusste Fernhalten von nichtstaatlichen Such- und Rettungsorganisationen aus dem zentralen Mittelmeer führt zu unzähligen weiteren Todesfällen auf einer der tödlichsten Fluchtrouten weltweit.

Trotz viel öffentlicher Kritik durch nichtstaatliche Such- und Rettungsorganisationen (SAR) werden zivile Schiffe seit der Verabschiedung des „Piantedosi-Dekrets” im Januar 2023 weiterhin willkürlich festgesetzt. Dies wurde durch das „Flussi-Dekret” im Dezember 2024 weiter verschärft. Im letzten Monat wurden Nadir und Sea-Eye 5, zwei kleinere Einsatzschiffe, betrieben von RESQSHIP und Sea-Eye, unter dem Vorwurf festgesetzt, den Anweisungen der Behörden nicht Folge geleistet zu haben. Beiden Crews wurden sehr weit entfernte Häfen zugewiesen. Sie wurden außerdem dazu aufgefordert, die Geretteten nach Vulnerabilitätskriterien zu trennen und anteilig auf ein anderes Schiff zu bringen –obwohl eine ordnungsgemäße Vulnerabilitätsprüfung eine sichere Umgebung voraussetzt und nicht an Bord eines Schiffes durchgeführt werden kann.

Diese rechtlichen und administrativen Hürden dienen einem offensichtlichen Ziel: zivile Rettungsschiffe von ihren Einsatzgebieten fernzuhalten und ihre Such- und Rettungsaktivitäten auf See drastisch einzuschränken. Ohne die Präsenz von nichtstaatlichen Schiffen und Flugzeugen werden mehr Menschen bei der Flucht über das zentrale Mittelmeer ertrinken und Menschenrechtsverletzungen sowie Schiffbrüche unbemerkt bleiben. Kleinere Schiffe spielen dabei eine entscheidende Rolle: Sie beobachten die Region, leisten Erste Hilfe für Menschen in Seenot und nehmen die Überlebenden notfalls an Bord, bis besser ausgerüstete Schiffe eintreffen.

Seit Februar 2023 wurden zivile Rettungsschiffe 29-mal festgesetzt. Das entspricht einer Zeit von insgesamt 700 Tagen, in denen sie sich in Häfen befanden, anstatt Leben auf See zu retten. Außerdem verbrachten die Schiffe zusätzlich 822 Tage auf See, um zu ungerechtfertigt weit entfernten Häfen zu gelangen, was einer Fahrleistung von 330.000 Kilometern entspricht. Die Praxis, Rettungsschiffe zu weit entfernten Häfen zu schicken, wurde nun auch auf kleinere zivile Schiffe ausgeweitet.

Darüber hinaus wenden Organisationen enorme Zeit und finanzielle Mittel auf, um gegen die restriktiven Gesetze Italiens und die willkürlich verhängten administrativen Festsetzungen und Geldstrafen vorzugehen.

In den vergangenen Monaten haben die nationalen Gerichte – in Catanzaro, Reggio Calabria, Crotone, Vibo Valentia und Ancona – Entscheidungen getroffen, in denen die Festsetzung von NGO-Rettungsschiffen für rechtswidrig erklärt und die damit verbundenen Geldstrafen aufgehoben wurden. Im Oktober 2024 ersuchte das Gericht von Brindisi das italienische Verfassungsgericht, die Vereinbarkeit des im Februar 2023 in Kraft getretenen „Piantedosi-Dekrets” mit der italienischen Verfassung zu prüfen. Am 8. Juli 2025 hat das Verfassungsgericht erneut festgestellt, dass das Seerecht nicht durch strafende und diskriminierende Vorschriften umgangen werden darf und dass jede entgegenstehende Anordnung als rechtswidrig und unzulässig anzusehen ist.

Unterlassene Hilfeleistung ist ein Verbrechen!

Nach internationalem Seerecht ist jede*r Kapitän*in dazu verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten. Ebenso ist jede staatliche Rettungsleitstelle gesetzlich verpflichtet, umgehend Rettungen einzuleiten und zu koordinieren. Was wir erleben, ist jedoch kein Staatsversagen, sondern systematische und vorsätzliche Rechtsverletzung: Rettungsleitstellen geben Informationen zu Seenotfällen nicht weiter, koordinieren Seenotfälle mit der sogenannten libyschen Küstenwache, die – sogar in maltesischen Gewässern – illegale Rückführungen durchführen, und lassen es zu, dass Frontex-Flugzeuge Schiffbrüche und gewaltsame Abfangmanöver beobachten, anstatt adäquate Rettung zu mobilisieren.

Diese Praktiken stellen einen eklatanten Verstoß gegen das SOLAS-Übereinkommen, das SAR-Übereinkommen, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) und den Grundsatz der Nichtzurückweisung dar. Wenn Staaten Rettungsmaßnahmen behindern, anstatt sie zu ermöglichen, setzen sie Recht nicht durch, sondern verstoßen dagegen.

Hintergrund

Im Dezember 2024 trat das von der italienischen Regierung verabschiedete „Flussi-Dekret” (umgewandelt in das Gesetz 145/2024) zu Migrations- und Asylrechtsfragen in Kraft. Es verschärft die bereits restriktiven Bestimmungen des „Piantedosi-Dekrets” und reicht von Geldstrafen bis hin zur Festsetzung und dauerhaften Beschlagnahmung von Such- und Rettungsschiffen. Die neuen Bestimmungen erleichtern die Beschlagnahmung von Schiffen, indem sie Reeder unabhängig von Kapitänin oder Kapitän für wiederholte Verstöße haftbar machen, und stellen damit eine weitere Eskalation der gezielten Behinderung der Arbeit von Seenotrettungsorganisationen im zentralen Mittelmeerraum dar.

Vor zehn Jahren begannen zivile Seenotrettungsorganisationen, die tödliche Lücke zu füllen, die die EU und ihre Mitgliedstaaten im zentralen Mittelmeerraum hinterlassen hatten. Während die EU sich zunehmend auf Grenzkontrollen und die Auslagerung von Grenzmanagement konzentriert, um die Ankunft von Menschen an den europäischen Küsten zu verhindern, retteten zivile Rettungsschiffe seitdem mehr als 175.500 Menschen aus Seenot. Dennoch werden nichtstaatliche Seenotrettungsorganisationen seit 2017 zunehmend kriminalisiert und systematisch behindert – durch restriktive Gesetze und Richtlinien, die im Widerspruch zum internationalen Seerecht und den Menschenrechten stehen.

Wir fordern:

  • die sofortige Aufhebung des Piantedosi- und des Flussi-Dekrets. Dieunmenschliche Aufforderung gegenüber Rettungsschiffen, Überlebende nur teilweise auszuschiffen, sowie die Zuweisung weit entfernter Häfen müssen beendet werden. Wie vom internationalen Seerecht gefordert, müssen Gerettete unverzüglich am nächstgelegenen sicheren Ort ausgeschifft werden. Sie sollten aufgrund von politischen Kalküls keine zusätzlichen Reisen erdulden müssen.
  • die sofortige Freilassung des Beobachtungsschiffes Nadir und die Beendigung der Behinderung und Kriminalisierung nichtstaatlicher Seenotrettungsaktivitäten.
  • dass die EU-Mitgliedstaaten ihrer Pflicht zur Rettung von Menschen auf See nachkommen und das Völkerrecht einhalten. Die Behörden und Rettungsleitstellen müssen zivile Schiffe bei der Koordinierung von Rettungsaktionen unterstützen, damit sie ihrer Aufgabe Menschen in Not zu helfen nachkommen können.
  • die Einrichtung eines EU-finanzierten und koordinierten Seenotrettungsprogramms.
  • sichere und legale Wege nach Europa, um zu verhindern, dass Menschen gezwungen werden, sich auf seeuntüchtige Boote über das zentrale Mittelmeer zu begeben.

Unterzeichner:

  1. Association for Juridical Studies on Immigration (ASGI)
  2. borderline-europe, Human rights without borders e.V.
  3. Captain Support Network
  4. Cilip | Bürgerrechte & Polizei 
  5. CompassCollective
  6. CONVENZIONE DEI DIRITTI NEL MEDITERRANEO 
  7. EMERGENCY
  8. European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)
  9. Gruppo Melitea 
  10. iuventa-crew
  11. LasciateCIEntrare 
  12. Maldusa project
  13. Médecins Sans Frontières
  14. MEDITERRANEA Saving Humans
  15. MEM.MED Memoria Mediterranea 
  16. migration-control.info project
  17. MV Louise Michel project
  18. Open Arms 
  19. RESQSHIP
  20. r42 Sail And Rescue
  21. Refugees in Libya
  22. Salvamento Marítimo Humanitario (SMH)
  23. SARAH-Seenotrettung 
  24. Sea-Eye
  25. Sea Punks e.V
  26. Sea-Watch
  27. SOS Humanity
  28. SOS MEDITERRANEE
  29. Statewatch
  30. Tunisian Forum for Social and Economic Rights FTDES
  31. United4Rescue 
  32. Watch the Med Alarm Phone