Brief von Stephen

Ahoi! Und wieder flattert dir Post direkt von unserer Crew in deine Mails: diesmal von Stephen. Er ist seit zwei Jahren bei den Sea Punks, und unsere Person fürs Crewing: Stephen hat das Crewing Department bei uns mit aufgebaut und zum Laufen gebracht und sorgt mit den anderen im Crewing Team dafür, dass wir stets Leute an Bord haben, die wissen, was sie tun. Er war auch schon mehrfach als Menschenrechtsbeobachter an Bord anderer NGO Schiffe. Und wäre auf der geplanten September Rotation als Head of Operation mitgefahren – doch dann mussten wir den Einsatz canceln. Warum? Lest selbst. 

Ps. Die Reparaturen in Malta ziehen sich und kosten uns – Stand jetzt – mindestens 80.000 Euro. 🤯 Es bleibt dabei: wir brauchen Geld. Bitte hilf uns, indem du unsere Spendenaufrufe teilst oder selbst Bootschafter*in wirst. Danke!

ANKUNFT IN MALTA

Endlich war es soweit. Nach Wochen der Vorbereitung, Anspannung, Vorfreude und etlicher Online-Meetings steht die nächste Rotation in den Startlöchern. Für diesen Einsatz war ich als Head of Operation gecrewt, quasi die Einsatzleitung an Bord. Die Person, die mit dem Kapitän den Gesamtüberblick wahrt und die Energie der Einsatzcrew in sichere Bahnen lenkt. In den zwei Wochen vor der Anreise hatten wir schon mehrere Online-Meetings mit der ganzen Crew, um einander kennenzulernen und die Einsatzkonzepte und Positionen zu besprechen. Schon da wurden zwei Dinge klar: Alle haben sehr viel Bock das Schiff wieder in die Such- und Rettungszone zu bringen, doch leider ist eine Absage der Rotation nicht ausgeschlossen, sollten sich die Reparaturen im Trockendock und die anschließende Abnahme ziehen. Auch war klar, dass das Schiff sich bei der Ankunft der Crew noch im Trockendock befinden wird. Natürlich hatten wir die Crew lange im voraus zusammengestellt und wir auch genug Puffer eingeplant, um auch Verlängerungen der Trockendock-Zeit noch abzufedern. So dachten wir zumindest. Aber ausschließen lässt sich eine Einsatzverschiebung oder Absage eben nie – auch das haben wir in den vergangenen Jahren schon gelernt und erlebt.

REALITÄTSKLATSCHE TROCKENDOCK

Bei meiner Ankunft auf dem Schiff in Malta dann die Realitätsklatsche. Die Kabinen für die Crew sind zum Teil noch ausgebaut und es klaffen noch riesige Löcher im Rumpf. Der Zeitplan sollte aber nach wie vor eingehalten werden. Also ran an die Arbeit: Trainingsplan erstellen, Unterkünfte planen, putzen, aufräumen und kochen. In wenigen Tagen kommt die Crew und dann sollen auch die Trainings starten. Um den Zeitplan einzuhalten, gab es keine andere Lösung als die Crew ins Trockendock anreisen zu lassen.

TRAININGS IM TROCKENDOCK

Inzwischen haben wir genug Schlafplätze hergerichtet und das Deck soweit vorbereitet, dass wir auch im Dock trainieren können. Zum Glück liegt unser RHIB im Wasser, sodass die RHIB-Crew schon richtige Trainings durchführen kann. Die nächsten Tage verschwimmen zu einem langen Tunnel an Wiederholungen. Jeden Morgen ein sich wiederholendes technisches Update von unserem Chief Engineer: “Mehr Metall wird rausgeschnitten und mehr Metall wird wieder eingeschweißt.“ Same shit as every day.” – Irgendwelche Neuigkeiten von der Werftleitung wann wir wieder im Wasser sind? – “Nein, aber hoffentlich wissen wir morgen mehr.” 

Wir haben diesmal eine sehr motivierte Crew, in der jedes Mitglied selbstverantwortlich Trainings gibt, Inventuren durchführt und Abläufe trainiert. Gleichzeitig werden wir wohl bis zum letzten Tag mit der Frage zu kämpfen haben, ob und wann es endlich losgehen kann?!

HIOBSBOTSCHAFTEN EN MASSE

Dann eines Morgens die nächste Hiobsbotschaft: Die Werft hat beim Schweißen ein Loch in unser Schiff gemacht. Zugegebenermaßen war das Metall an dieser Stelle auch einfach durch. Das Loch muss also weg und das so schnell wie möglich. Also neue Pläne schreiben, ein neues Angebot von der Werft erfragen und die Arbeiten mit der Klassifizierungsgesellschaft abklären. Endlose Meetings und nebenher trainieren und die Stimmung nicht kippen lassen. Nach zwei Tagen steht dann fest: Wir könnten trotzdem noch rechtzeitig fertig werden und in den Einsatz fahren. Also weiter trainieren!

Wieder ein paar Tage später die nächste schlechte Nachricht: Die Werft hatte die Reparaturarbeiten nicht mit der Klasse besprochen und die Klasse hatte sie in dieser Form gar nicht genehmigt. Also wieder Meetings und das Ergebnis: Die Reparaturen müssen noch einmal gemacht werden. Aber vorher will die Klasse eine vollständige Inspektion des Schiffs. Sie traut der Sache jetzt nicht mehr. Wir lassen den Kopf nicht hängen und machen weiter; suchen verschiedene Gutachter, die Zeit hätten, um sofort zum Schiff zu kommen und das Gutachten zu machen, damit danach die Reparaturen weitergehen können. Doch die Klasse hält uns hin und die Tage vergehen. 

DER GROSSE KNALL

So langsam schwankt auch die Stimmung in der Crew. Wieso dauert das so lange? Alle wissen, dass der Einsatz inzwischen am seidenen Faden hängt. Einige Tage später dann der große Knall: Die Klasse hat die von uns vorgeschlagenen Gutachter, die Zeit hätten, frühzeitig zu kommen, alle abgelehnt.  Stattdessen schickt sie einen eigenen Gutachter, der erst Ende der kommenden Woche wieder verfügbar ist. 

Das ist das Aus. Damit endet diese Rotation, bevor sie überhaupt angefangen hat. Wir bekommen die Mail um 07:30. Um 08:00 Uhr ist unsere Crew beim Morgenmeeting und wird von mir informiert. Die Enttäuschung liegt greifbar in der Luft. Trotz einer durchgehend transparenten Kommunikation und dem Wissen, dass wir gezwungen waren, zu pokern. 

Wieder einmal also steckt ein Schiff der zivilen Flotte an Land fest, obwohl die Ressourcen, die Crew und die Unterstützung von Land da waren. Wieder einmal entsteht eine Lücke im Such- und Rettungsgebiet im Zentralen Mittelmeer. Sich vorzustellen, was das für jene Menschen bedeutet, die sich in diesen Tagen auf die lebensgefährliche Fluchtroute über das Mittelmeer machen, mag man sich nicht vorstellen. 

ES WAR NICHT UMSONST

Trotzdem bleibt kaum Zeit zum Realisieren. Jetzt gilt es die Abfahrten vorzubereiten und die Situation mit einem Debriefing sauber über die Bühne zu bringen. Im Debriefing sind sich alle einig. Diese Crew hätte einen guten Einsatz gerissen. Und die Trainings waren garantiert nicht umsonst. Alle haben dazugelernt, sich in neue Rolle eingefunden und kommen bald wieder. Zu uns oder auf einem anderen Schiff.

Am selben Tag kehre ich noch von Bord zu meinem normalen Sea Punks-Job als Head of Crewing zurück. Die nun auf unabsehbare Zeit verschobene Abfahrt stellt uns vor ganz neue Herausforderungen. Die nächste Werftzeit, die wir auf Sizilien mit zahlreichen helfenden Händen geplant hatten, muss verschoben werden. Ebenso die nächste Rotation und die darauffolgende Werftzeit. Das bedeutet: E-Mails schreiben, Telefonate führen, Crewmitglieder absagen, Ersatz suchen und Personen von Sizilien nach Malta umleiten. Irgendwie auch business as usual im Crewing. Es kommt immer anders, als wir planen konnten. 

UND ALLES WIEDER VON VORN

Inzwischen bin ich wieder in Deutschland. Der Stress hält an und die Frustration hat zum Teil nachgelassen. Eigentlich sollten wir gerade in der Such- und Rettungszone sein. Stattdessen sitzt das Schiff auf dem Trockenen und ich vor dem Laptop. Im Internet schaue ich mir regelmäßig an wo die anderen Schiffe der zivilen Flotte sind und sehe die großen Leerstellen – wo Schiffe gebraucht würden, aber keines ist. Auch wir nicht. 

Erst kürzlich wurden wieder mal Schiffe der zivilen Flotte von Italien festgesetzt und Mare Jonio soll sogar ihre Rettungsmittel entfernen. Der Wahnsinn an den Außengrenzen geht also weiter und auch wenn wir immer nur ein Tropfen auf dem heißen Stein in diesem Gefüge, der Gewalt und dem Entsetzen sein können,trifft es , dass wir aktuell nicht mal das sein können, weil wir auf dem Trockenen liegen.

Gleichzeitig gehen die Vorbereitungen für die nächsten Rotationen weiter und ich sehe die ganze Unterstützung, die nach unserem letzten Hilferuf ungebrochen anhält. Das macht mir wieder Mut und lässt mich kämpferisch nach vorne schauen, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!

Love & Rage
Stephen